Kapitel XVI: Neue Menschen

 
(Übersetzung von Hedda Eulenberg, Erstveröffentlichung 1901 bei J.C.C.Bruns /Minden © Thomas Eulenberg 1999)
 

 

18. Januar An diesem Morgen Der Ausdrücke Morgen und Abend bediene ich mich nur, um in meine Erzählung Klarheit zu bringen, sie dürfen also nicht in ihrem gewöhnlichen Sinne genommen werden. Schon seit langem kannten wir keine Nacht mehr und hatten immer Tageslicht. Ebenso möchte ich hier auch noch bemerken, daß ich in meinem Berichte nicht allzuviel Sorgfalt auf die Genauigkeit der Daten oder der Breiten- und Längengrade gelegt habe. Ich fing erst lange nach der Zeit, die ich bis jetzt behandelt habe, an, ein regelmäßiges Tagebuch zu führen. In vielen Fällen habe ich mich infolgedessen nur auf mein Gedächtnis verlassen.nahmen wir unsere Fahrt nach dem Süden bei ebenso schönem Wetter wie während der vergangenen Tage wieder auf. Das Meer war vollständig glatt, der Nordostwind ziemlich warm, und die Temperatur betrug 53°. Noch einmal maßen wir die Tiefe mit einer Leine von diesmal 150 Klaftern und fanden, daß die Strömung jetzt eine Schnelligkeit von einer Meile in der Stunde hatte. Die beständige Richtung des Windes und des Stromes nach Süden erregte doch Aufsehen und Nachdenken unter der Mannschaft des Schoners, und selbst Kapitän Guy wurde bedenklich. Aber glücklicherweise war er energisch und mutig, und es gelang mir schließlich, ihn von seiner Abneigung, weiter zu forschen, zu bekehren.
Im Laufe des Tages sahen wir einige Walfische, und unzählige Scharen von Albatrossen flogen wieder an uns vorbei. Wir fischten auch eine Art Strauch mit roten Beeren und den Leichnam eines Tieres, das anscheinend vom Festlande kam und gar sonderbar aussah. Es war drei Fuß lang bei nur sechs Zoll Höhe, mit vier sehr kurzen Beinen, deren Füße mit langen, leuchtend roten Krallen bewaffnet waren, die der Koralle sehr ähnelten. Der Körper war mit seidenweichem, glattem, ganz weißem Fell bedeckt. Der Schwanz war dünn, wie der einer Ratte, und fast anderthalb Fuß lang. Der Kopf glich dem der Katze sehr, hatte aber lange, hängende Ohren, wie ein Hund. Die Zähne waren von demselben lebhaften Rot wie die Krallen.
19. Januar Wir befanden uns an diesem Tage auf dem 83° 2′ südlicher Breite bei 43°5′ westlicher Länge, als die Mastwache zum zweiten Male Land anzeigte, das sich bei genauerer Betrachtung als eine Gruppe großer Inseln herausstellte. Die Küste war abschüssig, und das Innere schien zu unserer Freude mit Wald wohl bestanden zu sein. Ungefähr vier Stunden später trafen wir bei zehn Faden Tiefe eine Meile von der Küste entfernt auf Sandboden Anker, da der starke, hin und wieder von Strudeln unterbrochene Wellenschaum eine weitere Annäherung gefährlich erscheinen ließ. Wir ließen die zwei größten Boote herab, und ein wohlbewaffneter Trupp, unter dem sich auch Peters und ich befanden, wurde bestimmt, in den Felsenriffen, welche die Insel wie ein Gürtel umgaben, eine Einfahrt zu suchen. Nach einiger Zeit entdeckten wir auch einen Durchgang und erblickten, als wir in ihn hineinfuhren, vier große, mit scharf bewaffneten Menschen besetzte Kähne, die gerade vom Lande abstießen. Wir ließen sie herankommen, und da sie sich mit großer Schnelligkeit vorwärtsbewegten, waren sie bald in Rufweite. Kapitän Guy steckte nun ein an einem Ruder befestigtes weißes Taschentuch auf, worauf die Wilden mit ihren Kähnen plötzlich stille hielten, laut untereinander zu schwätzen begannen und gelegentlich laute Rufe ausstießen, unter denen wir die Worte Anamoo-moo! und Lama-Lama! zu verstehen glaubten. Dies dauerte ungefähr eine halbe Stunde lang, während der wir sie genau ins Auge fassen konnten.
In den vier Kähnen, die vielleicht fünfzig Fuß lang und fünf Fuß breit waren, befanden sich im ganzen etwa hundert Wilde. Sie hatten die gewöhnliche Größe der Europäer, doch waren sie im allgemeinen muskulöser und fleischiger, von gagatschwarzer Farbe und trugen langes, schwarzes, wolliges Haar. Ihre Kleidung war aus dem zottigen, seidenweichen Fell eines uns unbekannten schwarzen Tieres mit einigem Geschick so verfertigt, daß es ziemlich dicht am Körper anlag, die Haare nach innen gekehrt, außer am Hals, an den Hand- und Fußgelenken, wo man sie als Verzierung nach außen gewandt. Ihre Waffen bestanden zum großen Teil aus Keulen aus schwarzem, anscheinend sehr schwerem Holze. Doch bemerkten wir auch einige Speere mit Spitzen aus Kiesel und ein paar Schlingen. Auf dem Boden der Kähne lagen schwarze, eigroße Steine.
Als sie mit ihrer Ansprache fertig waren (ohne Zweifel sollte ihr fürchterliches Geschwätz eine solche bedeuten), erhob sich einer von ihnen, anscheinend war es der Häuptling, und forderte uns durch Zeichen auf, mit unseren Booten heranzukommen. Wir taten jedoch, als verständen wir ihn nicht, denn da sie uns an Anzahl viermal überlegen waren, hielten wir es für besser, die Entfernung zwischen uns und ihnen bestehen zu lassen. Hierauf befahl der Häuptling dreien der Kähne, zurückzubleiben, und kam mit dem seinigen auf uns zu. Er sprang sofort in unser größtes Boot, setzte sich an der Seite des Kapitäns Guy nieder, wies auf unser Schiff und wiederholte dabei immer die Worte Anamoo-moo! und Lama-Lama! Wir ruderten zu unserem Schoner zurück, die vier Kähne folgten in einiger Entfernung.
Als wir an der Längsseite des Schiffes angekommen waren, äußerte der Häuptling eine ungeheuere Überraschung und Freude, indem er in die Hände klatschte, sich abwechselnd auf die Schenkel und die Brust klopfte und in eine schallendes Gelächter ausbrach. Sein Gefolge stimmte in seine Heiterkeit ein, und einige Minuten lang herrschte ein Gebrüll, daß uns das Trommelfell zu springen drohte. Als es endlich ein wenig ruhiger geworden war, befahl Kapitän Guy, der Vorsicht halber die Boote wieder aufzuziehen, und gab dem Häuptling (der, wie wir bald entdeckten, den Namen Too-wit führte) zu verstehen, daß höchstens zwanzig seiner Leute auf einmal an Deck kommen dürften. Too-wit schien mit diesem Arrangement wohl zufrieden, er machte seinen Kähnen ein Zeichen, worauf sich einer näherte und die drei anderen etwa fünfzig Ellen weit zurückblieben. Zwanzig der Wilden kamen also an Bord, spazierten überall herum, kletterten hier und da einmal im Tauwerk hinauf, benahmen sich vollständig, als seien sie zu Hause, und beguckten alle Gegenstände mit außerordentlicher Neugierde.
Augenscheinlich hatten sie noch nie einen Menschen von der weißen Rasse gesehen und empfanden vor unserer weißen Hautfarbe einen sonderbaren Abscheu. Die ›Jane Guy‹ hielten sie für ein lebendes Wesen, und um sie nicht zu verletzen, trugen sie die Spitzen ihrer Lanzen sorgfältig nach oben. Too-wits Betragen amüsierte die Mannschaft ganz besonders. Er kam nämlich dazu, wie der Koch in der Nähe der Küche Holz zerkleinerte und durch einen Zufall seine Axt tief in das Deck einhieb, so daß ein beträchtlicher Spalt entstand. Sofort lief er herzu, stieß den Koch ziemlich grob weg und seufzte, ja, schrie fast auf, um sein Mitleid mit den Schmerzen des Schiffes lebhaft zu äußern, dann streichelte und tätschelte er die Wunde und begann sie mit einem Eimer Wasser, der in der Nähe stand, auszuwaschen. Auf diesen Grad von Unwissenheit waren wir nicht vorbereitetet, und unwillkürlich stieg mir ein Zweifel an ihrer Echtheit auf.
Als unsere Besucher das Tauwerk und das Deck genugsam bestaunt hatten, wurden sie nach unten geführt, und hier überstieg ihre Verwunderung alle Grenzen. Sie schien zu groß zu sein, um sich in Worten Luft machen zu können, denn sie blickten stumm umher, nur hin und wieder unterbrach ein leiser Ausruf das Schweigen. Über unsere Waffen stellten sie zahllose Vermutungen auf, und es wurde ihnen gestattet, sie mit Muße zu betrachten. Ich glaube, sie hatten nicht die geringste Ahnung, welchem Zwecke sie eigentlich dienten, und hielten sie eher für Heiligtümer, da sie bemerkten, mit welcher Sorgfalt und Aufmerksamkeit wir sie während der Handhabung derselben beobachteten. Die großen Kanonen vergrößerten ihr Erstaunen noch. Sie näherten sich denselben mit allen Zeichen angstvoller Ehrfurcht und wollten sie nicht genauer betrachten. In der Kajüte befanden sich zwei große Spiegel, und vor diesen erreichte ihre Verwunderung den Höhepunkt. Too-wit war der erste, der sich ihnen näherte. Er war bis in die Mitte der Kajüte gekommen und hatte den einen gerade vor sich, den anderen gerade hinter sich, ehe er sie genauer bemerkte. Als er nun seine Augen erhob und sein Ich im Spiegel sah, dachte ich, er würde auf der Stelle wahnsinnig werden – als er sich dann jedoch pfeilgeschwind umdrehte, um zu entfliehen, und sich zum zweiten Male sich entgegenkommen sah, fürchtete ich, er würde im Augenblick vom Schlage gerührt. Nichts konnte ihn bewegen, sich die Sache genauer anzusehen, er warf sich auf den Boden nieder, verbarg sein Gesicht in den Händen, und blieb so lange liegen, bis wir ihn auf Deck hinauftrugen.
So kamen nacheinander alle Wilden, immer je zwanzig, an Bord. Too-wit durfte die ganze Zeit dableiben. Wir bemerkten keine Neigung zum Stehlen an ihnen und vermißten, nachdem sie uns verlassen, auch nicht das geringste. Sie hatten sich während der ganzen Zeit ihres Besuches sehr freundschaftlich benommen, doch konnten wir uns einige Züge ihres Betragens durchaus nicht erklären; so waren sie zum Beispiel nicht zu bewegen gewesen, sich verschiedenen harmlosen Gegenständen, wie den Segeln des Schiffes, einem Ei, einem offenen Buch, einer Mehltube, zu nähern. Wir versuchten zu erforschen, ob sie vielleicht Gegenstände besäßen, die zum Tauschhandel geeignet wären, konnten uns jedoch nur schwer verständlich machen. Doch brachten wir zu unserem größten Erstaunen in Erfahrung, daß die große Galapagos-Schildkröte auf ihren Inseln reichlich vorkomme, und bemerkten auch eine im Kahne ihres Häuptlings Too-wit. Einer der Wilden hielt ein Stück von einer ›biche de mer‹ – Molluske der indischen Gewässer, im konservierten Zustande ein namentlich für China sehr gesuchter Handelsartikel - in Händen und verspeiste es im Naturzustande mit größtem Appetite. Diese Anomalien (in Anbetracht des Breitengrades mußten wir solche Vorkommnisse wenigstens dafür halten) erregten in Kapitän Guy den Wunsch, eine Erforschung des Landes vorzunehmen, in der Hoffnung, vielleicht Gelegenheit zu nutzbringenden Spekulationen zu finden. So gern ich persönlich auch diese Inseln näher kennengelernt hätte, so sehr brannte ich darauf, unsere Reise ohne Aufschub weiter nach dem Süden fortzusetzen. Wir hatten augenblicklich schönes Wetter, doch wer konnte wissen, wie lange es anhielt; und da wir vollständig offene See vor uns hatten, ein Strom überdies stark nach Süden trieb und der Wind gut war, konnte ich den Vorschlag, länger hier zu verweilen, als zur Gesundheit der Mannschaft und zum Einnehmen neuer Feuerung und neuer Lebensmittel unbedingt nötig war, nicht ohne Ungeduld anhören. Ich schlug dem Kapitän vor, die Inseln erst bei unserer Rückkehr zu besuchen, und im Falle uns der Weg durch Eis versperrt sei, auf ihnen zu überwintern. Er ging schließlich auf meinen Plan ein, denn durch irgendeinen, mir selbst unbekannten Umstand hatte ich einen großen Einfluß auf ihn gewonnen, und es wurde endlich beschlossen, selbst wenn wir die ›biche de mer‹ im Überfluß vorfänden, nur eine Woche zu verweilen, um dann, solange es möglich war, weiter nach Süden vorzudringen. Wir machten also die zum Landen nötigen Vorbereitungen und brachten unter der Leitung Too-wits die ›Jane Guy‹ durch die Riffe in Sicherheit, indem wir ungefähr eine Meile vom Ufer in einer auf allen Seiten von Land umgebenen Bucht an der südöstlichen Küste der Hauptinsel bei zehn Faden Tiefe auf einem tiefschwarzen Sandboden Anker warfen. Man bedeutete uns, daß am Ende der Bucht drei Quellen mit ausgezeichnetem Wasser sprudelten; Holz erblickten wir ringsum im Überfluß. Die vier Kähne folgten uns in die Bucht, hielten sich jedoch immer in respektvoller Entfernung. Too-wit selbst blieb an Bord und lud uns, nachdem wir Anker geworfen, ein, ihn ans Land zu begleiten und sein Dorf in Augenschein zu nehmen. Kapitän Guy willigte ein; zehn Wilde blieben als Geiseln an Bord zurück; eine Abordnung von zwölf Männern begleitete den Häuptling. Ohne Mißtrauen zu verraten, bewaffneten wir uns reichlich. Auf dem zurückbleibenden Schiffe wurden die Kanonen bereit gemacht, die Verschanzungen errichtet und jede Vorsichtsmaßregel, einer Überraschung vorzubeugen, angewandt; der Steuermann erhielt den Befehl, während unserer Abwesenheit niemanden an Bord aufzunehmen und, falls wir in zwölf Stunden nicht zurück seien, die Schaluppe mit dem großen Mörser auf die Suche nach uns zu schicken.
Bei jedem Schritt, den wir in das Land hinein machten, befestigte sich unsere Überzeugung, daß es von allen anderen Ländern, die je von zivilisierten Menschen besucht wurden, wesentlich verschieden sei. Wir sahen nichts, das uns schon bekannt gewesen wäre. Die Bäume hatten mit denen, welche die heiße, gemäßigte oder nördliche kalte Zone hervorbringt, keine Ähnlichkeit und glichen auch nicht denen, die wir in den schon passierten südlichen Breiten gefunden hatten. Selbst die Felsen waren neu in ihrer Masse, ihrer Farbe und ihrer Schichtung; und die Flüsse hatten so wenig mit denen anderer Klimate gemein, daß wir zögerten, aus ihnen zu trinken, und zweifelten, ob ihre Eigenschaften auch wirklich rein natürliche seien. An einem kleinen Bache, der unsern Weg kreuzte (es war der erste, den wir antrafen), stand Too-wit mit seinem Gefolge stille, um zu trinken. Wir weigerten uns, wegen des sonderbaren Aussehens des Wassers, ihrem Beispiel zu folgen, und fürchteten, es sei verdorben, und erst später kamen wir zu der Überzeugung, daß alles Wasser auf der Insel so beschaffen sei. Die Natur der Flüssigkeit zu beschreiben, bin ich fast außerstande und kann es jedenfalls nicht ohne viele Worte. Obgleich es schnell alle Abhänge herunterfloß wie jedes gewöhnliche Wasser, hatte es doch nur dann, wenn es irgendwo herabfiel, das Aussehen einer klaren Flüssigkeit. Trotzdem war es in der Tat ebenso klar, wie irgendein anderes kalkhaltiges Wasser; es sah nur nicht so aus. Beim ersten Anblick, und besonders an wenig abschüssigen Stellen, glich es, was seine Dichtigkeit anbetrifft, einer dichten Lösung von Gummiarabikum in gewöhnlichem Wasser. Dies war jedoch noch das Unauffälligste an ihm. Am rätselhaftesten schien, daß es wiederum nicht farblos war, noch von irgendeiner einheitlichen Farbe, und daß es, wenn es dahinfloß, dem Auge alle möglichen purpurnen Reflexe bot, wie es changierende Seide tut. Und, um die Wahrheit zu gestehen, diese Veränderlichkeit der Schattierungen setzte uns in ein Erstaunen, das dem Too-wits beim Anblick unserer Spiegel fast nichts nachgab. Wir schöpften ein Gefäß voll, ließen es sich dort ruhig setzen und fanden, daß die ganze flüssige Masse aus vielen verschiedenfarbigen Adern bestand, daß diese Adern sich nicht vermischten, daß ihre Kohäsion bezüglich ihrer Moleküle eine vollständige, bezüglich der benachbarten Adern eine unvollständige war. Als ich die Spitze eines Messers quer durch die Adern führte, schloß sich das Wasser gleich wieder, und als ich es herauszog, waren die Spuren seines Weges sofort verlöscht. Senkte ich die Klinge jedoch genau zwischen zwei Adern, so fand eine vollständige Trennung statt, die die Kohäsionskraft nicht sofort wieder aufhob. Dies Wasser war jedoch nur eins von vielen Wunderdingen, die ich bald sehen sollte.