Kapitel I: Ein Vorabenteuer

 
(Übersetzung von Hedda Eulenberg, Erstveröffentlichung 1901 bei J.C.C.Bruns /Minden © Thomas Eulenberg 1999)
 

 

Ich heiße Gordon Pym. Mein Vater war ein ehrenwerter Mann und betrieb zu Nantucket, wo ich geboren wurde, einen Handel in Schiffseinrichtungsgegenständen. Mein Großvater mütterlicherseits war Advokat und hatte einen großen Klientenkreis. Außerdem spekulierte er erfolgreich und erwarb sich ein ziemlich beträchtliches Vermögen. Er war mir, glaube ich, mehr als irgend jemand anderem auf der Welt zugetan, und ich durfte erwarten, bei seinem Tode den größten Teil seiner Güter zu erben. Als ich sechs Jahre alt war, schickte er mich in die Schule des alten Herrn Ricketts, eines Herrn, der nur einen Arm und ziemlich exzentrische Manieren hatte und jedem, der einmal New Bedford besucht hat, wohlbekannt: ist. Ich blieb bis zum siebzehnten Jahre unter seiner Obhut und besuchte dann die Akademie des Herrn E. Ronald. Hier wurde ich mit dem Sohne des Herrn Barnard bekannt, eines Seekapitäns, der im Auftrage der Firma Vredenburgh fuhr; Herr Barnard ist ebenfalls in New Bedford gut bekannt und hat viele Verwandte in Edgarton. Sein Sohn hieß August und war fast zwei Jahre älter als ich. Er war einmal mit seinem Vater auf der Walfischjagd gewesen und konnte mir nicht genug von seinen Seeabenteuern erzählen. Ich brachte manchmal ganze Tage, ja, ganze Nächte bei ihm zu. Wir schliefen in demselben Bett und schlossen oft bis zum Tagesanbruch kein Auge, weil er kein Ende finden konnte, mir die Eingeborenen von Tinian und anderen Inseln, die er besucht, zu schildern. Ich begann, mich nach und nach für seine Erzählungen zu interessieren, bis ich denn schließlich nichts lebhafter wünschte, als Seemann zu werden. Ich kaufte mir für fünfundsiebzig Dollar ein kleines Segelboot, den ›Ariel‹, ein Halbverdeck, das ohne Überlastung wohl zehn Personen fassen konnte. Mit diesem Boot nun machten wir die tollsten Streiche von der Welt, und wenn ich mich jetzt an dieselben erinnere, wundere ich mich nur, daß ich noch am Leben bin.
Ich möchte eines dieser Abenteuer meiner längeren und wichtigeren Erzählung als Einleitung voranschicken. Herr Barnard gab eines Abends eine Gesellschaft, an deren Schlusse August und ich nicht wenig bezecht waren, so daß ich, wie meistens in solchen Fällen, vorzog, über Nacht bei ihm zu bleiben, statt nach Hause zu gehen. Er begab sich ziemlich ruhig zu Bett, und auch ich war nach Verlauf einer halben Stunde gerade dabei, sanft einzudämmern, als er plötzlich wieder vom Bett aufstand und mit einem schrecklichen Fluche schwor, daß kein Gordon Pym in der ganzen Christenheit ihn bewegen könne zu schlafen, wenn eine so glorreiche Brise aus Südwest wehe. Ich erstaunte höchlichst, denn ich konnte mir gar nicht erklären, was er eigentlich wolle, und glaubte, der reichliche Wein- und Liqueurgenuß habe ihn so außer sich gebracht. Er sprach jedoch plötzlich ganz ruhig weiter: Ich hielte ihn wohl für betrunken, doch sei er nie in seinem Leben nüchterner gewesen. Er sei es aber leid, in einer so wundervollen Nacht wie ein Hund schlafend zu liegen, er werde jetzt aufstehen, sich anziehen und auf dem Boote ›Spaß machen‹. Ich weiß nicht, welcher böse Geist plötzlich Besitz von mir ergriff: kaum waren die Worte seinem Munde entflohen, so war auch ich der Meinung, daß seine wahnwitzige Idee der köstlichste und vernünftigste Vorschlag von der Welt sei. Es war fast stürmisch draußen und das Wetter sehr kalt, denn wir befanden uns gegen Ende Oktober.
Ich sprang jedoch dessenungeachtet in einer Art von Ekstase aus dem Bette, schrie, daß ich ebenso tapfer sei wie er und ebensowenig geneigt, wie ein Hund die Nacht durchzuschlafen, und ebenso, wie jeder August Barnard in Nantucket, zu jeden Ulk auf einem Boote bereit.
Mit Windesschnelle fuhren wir in unsere Kleider und eilten hinaus. Der ›Ariel‹ lag auf der alten, verfallenen Werft von Pankey & Co. August sprang hinein und schöpfte ihn aus, denn er war fast halbvoll Wasser. Als dies getan war, richteten wir die Segel und steuerten kühn in die See hinaus.
Es blies ziemlich stark aus Südwest, die Nacht war klar und kalt; August saß am Steuer, ich stand auf Deck am Segel. Wir flogen ziemlich rasch dahin, keiner von uns hatte, seit wir das Schiff von der Werft losgelöst, ein Wort gesprochen. Ich fragte meinen Gefährten nach einiger Zeit, wohin er denn eigentlich steuern wolle und wann wir wieder zurückkehren würden. – Er pfiff ein paar Minuten lang vor sich hin und antwortete mir dann ganz trocken: »Ich fahre auf die See hinaus, du kannst ja nach Hause zurückkehren, wenn du willst!« Ich sah ihn erstaunt an und bemerkte, daß er trotz seiner angenommenen Gleichgültigkeit im höchsten Grade erregt war. Ich konnte ihn, da der Mond hell schien, deutlich sehen, sein Gesicht war bleicher als Marmor, und seine Hand zitterte so stark, daß er nur mit Mühe das Steuer halten konnte. Ich empfand, daß er irgend etwas falsch gemacht haben mußte, und geriet in große Unruhe. Mir selbst war die Führung eines Bootes damals noch fast vollständig unbekannt – ich war auf die Geschicklichkeit meines Freundes angewiesen. Der Wind hatte auch plötzlich an Heftigkeit zugenommen, und wir bewegten uns in gerader Linie immer tiefer ins Meer hinaus, doch schämte ich mich, irgendwelche Befürchtungen zu äußern, und schwieg noch eine weitere halbe Stunde lang. Dann jedoch konnte ich mich nicht länger bezwingen und stellte meinem Freunde vor, es sei nun doch Zeit, an die Rückfahrt zu denken. Wieder verging fast eine Minute, ehe er mir antwortete oder vielmehr meinen Vorschlag verstanden zu haben schien. »Hat noch Zeit - hat noch Zeit!« sagte er endlich, und obwohl ich eine ähnliche Antwort erwartet hatte, erfüllte mich der Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, mit unaussprechlichem Schrecken. Ich blickte ihn wieder an und bemerkte, daß seine Lippen totenbleich waren, und seine Knie so heftig schlotternd gegeneinanderschlugen, daß er sich nur mit Mühe aufrecht erhielt. »Um Gottes willen, August«, rief ich aus, »was fehlt dir? Was ist denn vorgefallen? Was machst du denn da?« »Vorgefallen?« lallte er, offenbar aufs höchste überrascht, ließ im gleichen Augenblick das Steuer fahren und fiel selbst der Länge nach ins Boot zurück. »Vorgefallen? Nichts ist vorgefallen ... wir fahren ... nach Hause ... siehst ... siehst du denn nicht?« Nun erkannte ich plötzlich die ganze fürchterliche Wahrheit. Er war betrunken ... vollkommen betrunken, und konnte weder stehen, noch gehen, noch sehen. Seine Augen waren ganz verglast. Ich riß ihn vom Boden empor, doch er fiel gleich wieder wie ein Balken in die Wassertümpel auf dem Boden des Bootes. Er hatte offenbar während des Abends viel mehr getrunken als ich geglaubt, und sein Betragen im Bette war nur das Resultat einer besonders hochgradigen Trunkenheit gewesen, welche – gleich einer gewissen Art Irrsinn – zuläßt, daß die Opfer eine Zeitlang wie ein vollständig vernünftiger Mensch reden und handeln können. Die kalte Nachtluft hatte die Trunkenheit dann zum Ausbruch gebracht und die schattenhafte Erkenntnis unserer gefährlichen Lage nur dazu beigetragen, die Katastrophe zu beschleunigen. Er war nun vollständig unzurechnungsfähig und konnte allem Anschein nach erst nach Ablauf mehrerer Stunden zu sich kommen.
Es ist fast unmöglich, sich eine Vorstellung von meinem grenzenlosen Entsetzen zu machen. Der letzte Rest von Rausch war verschwunden, und die Ernüchterung machte mich doppelt furchtsam und unentschlossen. Ich wußte, daß ich vollständig unfähig war, ein Boot zu lenken, und daß der Sturm und die starke Ebbe uns unaufhaltsam dem Verderben entgegentrieben. Wir hatten weder einen Kompaß bei uns noch Lebensmittel, und bei der Schnelligkeit, mit der das Boot vorwärtsschoß, war es unausbleiblich, daß wir bei Tagesanbruch die Küste aus dem Gesichte verloren hatten. Solche und ähnliche angstvolle Gedanken durchsausten mit rasender Schnelligkeit mein Gehirn und machten mich eine Zeitlang zu jeder Handlung unfähig. Das Boot lief mit entfalteten Segeln gerade vor dem Winde, der Bug war vollständig in Schaum begraben, und ich erwartete jeden Augenblick, daß es beidrehen werde, da August, wie ich schon sagte, das Steuer losgelassen, und ich in meiner Aufregung nicht fähig war, es wieder an mich zu nehmen. Glücklicherweise hielt es stand, und ich erlangte nach und nach meine Geistesgegenwart zurück. Der Sturm nahm jedoch in beängstigender Weise zu, und jedesmal, wenn unser Schiff von einem Absturz nach vorne wieder in die Höhe schnellte, schlugen die Wellen über dem hinteren Teil des Schiffes zusammen und durchnäßten uns. Alle meine Glieder waren bald vor Kälte so erstarrt, daß ich die Bewegungsfähigkeit schwinden fühlte. Da raffte ich mich voller Verzweiflung zu einer letzten Anstrengung auf, stürzte auf das Hauptsegel zu und löste es, soweit ich konnte, vom Maste. Es flog sofort über Bord, wurde vom Wasser durchtränkt, riß, wie ich erwartet, den Mast mit sich fort und rettete uns dadurch vor dem sofortigen Untergange. Wir glitten jetzt langsamer vor dem Winde hin, mußten zwar noch immer Wasserstürze ertragen, waren jedoch in etwa von der Gefahr befreit, jeden Augenblick von den Wellen verschlungen zu werden. Ich ergriff das Steuerruder und atmete ein klein wenig freier, als ich mir sagte, daß noch nicht alle Hoffnung verloren sei. August lag noch immer bewußtlos auf dem Boden des Bootes, und ich bemerkte, daß er in Gefahr war zu ertrinken, denn das Wasser stand im Schiffe fast einen Fuß hoch. Ich richtete ihn mit vieler Mühe teilweise empor und erhielt ihn in sitzender Lage, indem ich ein Tau um seine Brust schlang und dieses an einem der Ringe, die in ziemlicher Höhe im Boote angebracht waren, befestigte. Nachdem ich auf diese Weise alles, so gut es mir in meiner Aufregung, meinem halberfrorenen Zustande möglich war, hergerichtet hatte, befahl ich mich dem Himmel, fest entschlossen, alles, was auch kommen möge, mit möglichstem Mute zu ertragen.
Kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, so erscholl plötzlich ein lautes, langes, gellendes Geschrei, welches wie das Geheul eines ganzen Heeres von Teufeln die Luft zu durchfahren schien. Nie, so lange ich lebe, werde ich das Entsetzen vergessen können, das in diesem Augenblick über mir zusammenschlug. Mein Haar sträubte sich, ich fühlte, wie das Blut in meinen Adern erstarrte, mein Herz stockte, und ohne meine Augen erhoben zu haben, um die Ursache der schauerlichen Töne zu erkennen, fiel ich kopfüber und bewußtlos über den Körper meines Gefährten.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in der Kajüte eines Walfischfängers, des ›Pinguin‹, der sich auf der Fahrt nach Nantucket befand. Mehrere Personen standen bei mir, und August, bleicher als der Tod, war eifrig beschäftigt, mir die Hände zu reiben. Als er sah, daß ich die Augen aufschlug, kannten seine Dankbarkeits- und Freudenausbrüche keine Grenzen und entlockten den rauhen Seeleuten, die zugegen waren, abwechselnd Tränen und Gelächter. Das Geheimnis unserer Rettung war nun bald aufgeklärt. Wir waren von dem Walfischfänger, der mit vollen Segeln, im rechten Winkel zu der Richtung unserer Schiffes, also auf Nantucket, lossteuerte, überrannt worden. Auf dem Auslug hatten allerdings ein paar Männer gestanden, doch bemerkten sie uns erst, als es für uns zu spät war, dem Stoße auszuweichen. Ihre Warnungsrufe waren das Geschrei gewesen, das mich so fürchterlich erschreckt hatte. Das große Schiff war, wie man mir erzählte, so leicht über unser Boot dahingesaust, wie dies selbst über eine Feder gleiten würde – ohne den Widerstand im geringsten als Hindernis zu empfinden. Kein Schrei war vom Deck des kleinen Schiffes gekommen, man hatte nur einen leichten, kratzenden Ton gehört, welcher im Augenblicke, da die schwache Barke unter dem Kiel des Walfischfängers verschwand, mit dem Aufschlagen der Wellen heraufgeklungen war. Das war alles gewesen. Da der Kapitän (Kapitän E. T. V. Block aus New London) unser Boot, welches ich, wie man sich erinnern wird, entmastet hatte, für irgendeine Nußschale hielt, die man, als unbrauchbar geworden, den Wellen überlassen, wollte er unbekümmert um diesen Zwischenfall die Fahrt fortsetzen. Glücklicherweise behaupteten die zwei Männer, die am Auslug gespäht hatten, auf das bestimmteste, an dem Steuerruder des verunglückten Schiffes einen Menschen gesehen zu haben, den man möglicherweise noch retten könne. Es kam zu einer Auseinandersetzung, die den Kapitän Block so sehr erbitterte, daß er nach einiger Zeit ausrief, es sei nicht seine Sache, auf jede Nußschale, die im Ozean schwämme, Obacht zu geben. Das Schiff werde wegen eines solchen Unsinns nicht umdrehen, und wenn da ein Mann überrannt worden wäre, so sei es seine eigene Schuld, er möge ruhig ersaufen und zum Teufel fahren.
Nun nahm sich Henderson, der erste Steuermann, der, wie die ganze Mannschaft, über die herzlosen Worte des Kapitäns im höchsten Grade empört war, der Sache an. Er erklärte dem Kapitän in kurzen, klaren Worten, daß er für seine Grausamkeit den Galgen verdient habe, die ganze Mannschaft sei entschlossen, diesmal seinen Befehlen zuwiderzuhandeln, und sollten sie alle dafür, sobald sie den Fuß an Land setzten, gehenkt werden. Er begab sich auf das Hinterteil des Schiffes, indem er Block, der totenbleich wurde und keine Antwort gab, beiseite schob, ergriff das Steuer und gab mit fester Stimme das Kommando. Die Mannschaft eilte auf ihre Posten, und das Schiff machte eine geschickte Umdrehung. Die ganze Sache hatte vielleicht fünf Minuten gedauert, so daß es sehr zweifelhaft war, ob man den Verunglückten, vorausgesetzt, daß sich wirklich ein Mensch in dem Boote befunden, noch retten konnte. Doch wurden August und ich in kurzer Zeit aufgefunden und geborgen. Wir schienen unsere Rettung einem jener seltsamen Zufälle zu verdanken, welche die Frommen dem unmittelbaren Dazwischentreten der Vorsehung zuschreiben.
Während das Schiff also ein Stück zurückfuhr, ließ der Steuermann das Rettungsboot hinunter und sprang mit den beiden Männern, die behauptet hatten, mich gesehen zu haben, hinein.
Sie waren eben vom Schiff abgestoßen – der Mond schien noch hell und klar -, als dasselbe sich bedächtig auf die Luvseite legte und Henderson im selben Augenblicke von seinem Sitze aufsprang und den Ruderern aufgeregt befahl, wieder zurückzurudern. Er konnte kein Wort weiter reden, sondern kommandierte in einem fort: »Zurückrudern! Zurückrudern!« Die Mannschaft gehorchte ihm, so schnell es nur möglich war, doch das Schiff hatte sich ganz herumgedreht und segelte dem Rettungsboote gerade entgegen. Trotz der augenscheinlichen Gefahr wagte der Steuermann sofort, eine der von dem großen Schiffe herunterhängenden Ketten zu ergreifen; und sich an derselben in die Höhe zu ziehen. Er teilte ein paar kurze Befehle aus, und das Schiff neigte sich so, daß seine Steuerbordseite bis fast an den Kiel außer Wasser kam, und man den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit erblickte. An dem glatten und glänzenden Boden des Schiffes (der ›Pinguin‹ war ganz mit Kupfer beschlagen) war in seltsamster Weise der Körper eines Menschen befestigt und schlug bei jeder Bewegung des Schiffsrumpfes auf denselben auf. Nach mehreren vergeblichen Anstrengungen gelang es endlich, mich aus meiner gefährlichen Lage zu befreien und an Bord zu ziehen - denn ich war es, der so sonderbar an das Schiff angehakt war. Ein Pflock, der das Holzwerk des Fahrzeuges zusammenhielt, war durch das Kupfer gedrungen und hatte mich, als ich unter dem Schiffe hergeschleudert wurde, aufgehalten. Der Kopf des Pflockes hatte den Kragen meiner Jacke von grobem Tuch durchbohrt, war zwischen zwei Flechsen unterhalb des rechten Ohres in meinen Hals eingedrungen und hielt mich auf diese Weise fest.
Ich wurde sogleich zu Bett gebracht, obwohl allem Anschein nach das Leben längst entflohen war. Es befand sich kein Arzt an Bord – doch wendete der Kapitän alle nur erdenklichen Wiederbelebungsversuche an, als wolle er in den Augen seiner Mannschaft seine vorherige Grausamkeit möglichst wieder gutmachen.
Mittlerweile stieß Henderson zum zweitenmal vom Schiffe ab, obgleich sich der Sturm zum Orkan gesteigert hatte. Nach wenigen Minuten gelangte er an einige Trümmer unseres Bootes, und bald darauf behauptete einer der Ruderer, mitten durch das Toben des Unwetters einen schwachen Hilferuf vernommen zu haben. Dies veranlaßte die kühnen Seemänner, noch fast eine halbe Stunde lang mit dem Suchen fortzufahren, obgleich Kapitän Block sie durch verschiedene Signale aufforderte, zurückzukehren, und sie in ihrem schwachen Boote fast beständig in Lebensgefahr schwebten.
Nachdem sie also, wie ich schon sagte, eine halbe Stunde lang auf das eifrigste gesucht hatten, entschlossen sie sich, zum Schiff zurückzukehren. Doch kaum hatte einer von ihnen die Absicht ausgesprochen, so vernahmen sie von einem dunklen Gegenstande her, der ziemlich nahe an ihnen vorbeischoß, einen zweiten schwachen Ruf. Sie ruderten darauf zu und erreichten ihn bald: es war das Deck und die Kajüte des ›Ariel‹, wo August anscheinend in den letzten Zügen lag. Als man ihn ins Boot ziehen wollte, fand man, daß er mit einem Tau an das treibende Holzwerk angebunden war – ich hatte ihn ja selbst, wie man sich erinnern wird, an einem der Ringe an den Seitenwänden des ›Ariel‹ befestigt, um ihn in seiner Betrunkenheit in sitzender Stellung zu erhalten. Dieser Vorsichtsmaßregel hatte er jetzt sein Leben zu verdanken. Der ›Ariel‹ war leicht gebaut, und als er unterging, war sein ganzes Holzwerk in Stücke gebrochen. Das Verdeck der Kajüte wurde durch die Macht des eindringenden Wassers abgerissen, löste sich vollständig von den übrigen Teilen des Wracks los und schwamm, wahrscheinlich mit manchen anderen Bruchteilen, auf den Wellen. August war auf ihm festgebunden und entging so dem sicheren Tode.
Er wurde sofort an Bord des ›Pinguin‹ gebracht, doch mehr als eine Stunde verstrich, ehe er so weit zu sich kam, daß er ein Lebenszeichen gab und die Art des Unfalles, die uns betroffen, verstehen konnte. Endlich erholte er sich jedoch wieder und schilderte lebhaft die Empfindungen, die ihn während seines schrecklichen Aufenthaltes auf dem Wrack gequält hatten. Als er zum Bewußtsein kam, befand er sich unter Wasser, wo er mit unbegreiflicher Schnelligkeit immer rund um sich selbst gewirbelt wurde, einen Augenblick später fühlte er sich schnell nach oben gezogen, schlug mit dem Kopfe gegen einen harten Gegenstand, so daß er wieder bewußtlos wurde. Als er zum zweitenmal zu sich kam, begann er sich seiner Lage ein wenig mehr bewußt zu werden, obschon seine Gedanken noch höchst unklar und verworren waren. Er erkannte jedoch, daß sich irgendein Unfall ereignet haben mußte und er im Wasser war, obgleich sich sein Mund über der Oberfläche befand und er ohne Beschwerden atmen konnte. Wahrscheinlich trieb das Verdeck gerade vor dem Winde dahin und zog ihn, da er auf dem Rücken lag, mit sich fort. So lange er sich in dieser Lage erhalten konnte, war er vor dem Ertrinken sicher. Plötzlich warf ihn eine heftige Welle mitten auf das Verdeck; er machte alle Anstrengungen, sich in dieser neuen Lage zu erhalten, und stieß hin und wieder Hilferufe aus. Kurze Zeit bevor ihn Henderson entdeckte, mußte er, von Erschöpfung übermannt, das Verdeck, an das er sich klammerte, loslassen. Er fiel ins Wasser zurück und gab sich selbst verloren. Während der ganzen Zeit des Kampfes war ihm weder die geringste Erinnerung an den ›Ariel‹ noch an irgendeinen Umstand, der das Unglück herbeigeführt, gekommen. Ein unbestimmtes Gefühl der Furcht und der Verzweiflung war alles, was er empfinden konnte. Als man ihn dann aufgefischt hatte, verließen ihn seine Sinne von neuem, und wie ich schon sagte, kam er erst, nachdem er eine ganze Stunde an Bord des ›Pinguin‹ war, wieder zum Bewußtsein und zur vollständigen Erkenntnis seiner Lage.
Ich selbst wurde aus einem Zustande, der fast an den Tod grenzte, nur mit allergrößter Mühe wieder ins Leben zurückgerufen. Dreieinhalb Stunden lang stellte man alle nur denkbaren Wiederbelebungsversuche an, erst der letzte, den August vorgeschlagen: heftige Abreibungen mit Flanelltüchern, die in heißes Öl getaucht waren, hatten Erfolg. Die Wunde in meinem Halse war, obwohl sie schlimm genug aussah, nicht gefährlich und heilte bald.
Der ›Pinguin‹ lief um neun Uhr morgens in den Hafen ein, nachdem er noch eine Zeitlang gegen einen der heftigsten Stürme zu kämpfen hatte, die je in der Nähe von Nantucket gewütet haben. August und ich beeilten uns, pünktlich zum Frühstück bei Herrn Barnard zu erscheinen, der sich an diesem Morgen selbst etwas verspätet hatte, vermutlich, weil er nach der Gesellschaft vom gestrigen Abende wohl ein wenig länger geschlafen. Ich glaube, daß alle am Tische zu müde waren, um unseren bleichen Gesichtern besondere Aufmerksamkeit zu schenken – und im übrigen sind Schulbuben ja fähig, Wunder von Verstellung zu vollbringen. So hatte denn keiner unserer Freunde in Nantucket die leiseste Ahnung davon, daß sich die Geschichte, die ein paar Seemänner in der Stadt erzählten - sie hätten ein Schiff überrannt und ein paar arme Teufel, wohl dreißig oder vierzig, seien dabei umgekommen - auf August, mich und den ›Ariel‹ bezog. Wir beide haben noch oft später von der Sache gesprochen, doch nie ohne Schaudern. In einer dieser Unterhaltungen gestand August dann freimütig, daß er niemals in seinem Leben einen so wilden Schreck empfunden habe als in dem Augenblicke, da er sich in unserem kleinen Boote plötzlich der ganzen Gewalt seines Rausches bewußt geworden sei und sich zu jedem klaren Gedanken unfähig gefühlt habe.